Liebe Mitpilger,

Doro und ich haben unsere Tochter Eva in der Schweiz besucht. Sie verbringt den Sommer auf der Alp um zu käsen. Beim Zügeln wollten wir helfen und sie unterstützen. Zügeln meint den Umzug von einer Alp auf die nächste. Mit Sack und Pack, Hühnern, Ziegen, Kühen und Schweinen geht es durch die Berge. Um 5.30 Uhr war Startpunkt im Tal. Aufbruchstimmung und Vorfreude regte sich bei allen. Zusammenhalt ist gefragt und wird sofort spürbar. Wir brauchen einander. Deshalb sind wir da.

Zunächst fahren wir mit den Autos zum Grünbergpass. Oben angekommen sind wir gut durchgeschüttelt. Von dort geht es zu Fuß weiter bis zur Alp. Es dämmert und ich bin hellwach. Die ersten Glocken sind zu hören, denn über Nacht waren die Kühe draußen. Am Tage werden die Tiere von zu vielen Insekten gepiesackt und stehen deshalb im Stall. So gehört es zur ersten Aufgabe die Kühe zu suchen und in den Stall zu treiben. Die Einheimischen sind selbstbewusst und ergänzen das Glockenläuten mit ihren urwüchsigen Rufen. Die Kühe wissen, dass ich ein Frischling bin und nehmen mich weniger ernst. Also komme ich mehr aus mir heraus: „Hey, Hop. Da lang!“ Ob ich mir damit selber Mut mache oder tatsächlich an Respekt gewinne, weiß ich nicht, aber es macht Spaß. Während die meisten sich um die Kühe kümmern, packen fleißige Hände gewissenhaft die Fracht für den Heli: Hühnerstall mit den Hühnern, Kühlschrank, Generator, Kisten und mehr. Alles muss heil ankommen. Immer wieder wird nachgebessert, bis alles im Netz seinen Platz hat. Die Handgriffe sitzen und bilden eine perfekte Mischung aus Routine und Achtsamkeit; gesprochen wird wenig. Es ist still am Berg. Inzwischen ist die Sonne hervorgekommen und beginnt, dem Tag Licht und Wärme zu schenken.

Schließlich geht es richtig los. Zunächst die Ziegen und dann die Kühe. Jetzt erwacht der Tag zu vollem Leben. Die Rufe der Hirten, das Muhen der Kühe und das Läuten der Glocken erschallen durch die Lüfte und schwellen zu einem heftigen Konzert an. Ich richte mich innerlich auf und spüre, wie mich die Lebensgeister erfüllen. Als die Ziegen und Rinder nicht mehr zu sehen sind, schlägt die Stunde von Doro und mir. Wir haben unsere acht Schweine zur Alp zu bringen. Eine kurze Einweisung musste genügen.

Gleich zu Beginn zeigt sich, dass sich unsere Henriette am schwersten tut im bergigen Gelände. Sie wird unser Tempo bestimmen. Ich erinnere mich an eine Weisheit meiner Mutter, die dafür immer eingetreten ist: „Das schwächste Glied bestimmt das Tempo.“ Überhaupt wird unser Miteinander ein Gleichnis für das Leben.

Die erste Lektion, die mich die Schweine lehren heißt: Hirten müssen sich einig sein. Sonst kommt die Herde nicht vorwärts. Damit erwächst den Hirten eine hohe Verantwortung. Klare Kommunikation, Freude an der Kompetenz des anderen und Wachsamkeit. Die Herde zusammenzuhalten ist oberstes Gebot. Sie exakt auf dem Weg zu führen kostet unnötig Kraft. Oft ist der Weg nur Orientierung. Es muss auch Freiheit für eigene Schritte geben. Der Grad zwischen Freiheit und Führung ist schmal. Damit kommt eine wichtige Grundtugend ins Spiel; die Geduld. Geduld ist eine Einladung an die Wirklichkeit so sein zu dürfen, wie sie ist. Ungeduld ist Vergewaltigung der Wirklichkeit. Weil die Zeit der Menschen begrenzt ist entsteht Druck. Dieser Druck kann sich zwischen den Hirten entladen, dann macht man sich gegenseitig Vorwürfe. Man kann ihn auch an die Schweine weitergeben. Dabei lernt man sich selber kennen und seine eigenen Grenzen. Weil Gott die Liebe ist, hat er ewig Geduld. Das ist ungemein tröstlich! Ich aber bin nur ein Mensch und soll an meinen Grenzen wachsen. Eine gewaltige Herausforderung.

Die vielleicht wichtigste Erkenntnis kommt mir erst beim gemeinsamen Frühstück, als wir von unseren Erlebnissen erzählen. Schweine können nicht schwitzen, erfahre ich dabei. Dass sie auf unserem Weg immer nach Schlammlöchern gesucht haben, um sich darin zu wälzen, war also nicht ihrer Faulheit oder dem eigenen Dickschädel geschuldet. Es war ihre Form der Selbstfürsorge, um sich Kühlung zu verschaffen. Meine Unkenntnis war damit die Quelle meiner Ungeduld. Ich bin den Schweinen nicht gerecht geworden, weil ich mich nicht in sie eingefühlt habe. Jesus kennt die Seinen, heißt es in der Schrift. Gott hat sich in die Menschen eingefühlt und ist selber Mensch geworden. Er hat unsere Perspektive eingenommen und wird uns deshalb gerecht. Jetzt ist auch völlig klar, dass „kennen“ in der Sprache der Bibel „lieben“ bedeutet. Ich bin den Schweinen Liebe schuldig geblieben. Wenn wir einander wirklich begegnen wollen, müssen wir bereit sein die Welt mit den Augen des anderen anzuschauen. Sonst gibt es keine Brücken zueinander. Das ist die Grundübung der Liebe und sie tut der Welt Not.

Bevor ich wieder einmal ungeduldig werde, will ich mir mehr Mühe geben, mich in den anderen hineinzuversetzen. Dass diese Gedanken in der Welt kaum Platz haben, weil sie sich immer schneller dreht, ist mir klar. Aber ich soll ja auch in der Welt leben ohne von ihr zu sein. Probieren wir es miteinander in Gottes Namen und unter seinem Segen.

Mit frohem Gruß Euer Mitpilger